Der König der Hirsche
Die JATAKAS, wörtlich übersetzt „Geburtsgeschichten“, sind ein Teil des Sutra-Pitaka, gehören also zum buddhistischen Kanon, dem Tripitaka. Die Jataka - Geschichten erzählen von den Vorleben des Buddha und zeigen, wie das Verhalten in früheren Existenzen die Umstände der gegenwärtigen Existenz beeinflusst. Viele von ihnen stammen aus der indischen Volkserzählung und wurden von den Buddhisten adoptiert und adaptiert. In vielen Geschichten wird der zukünftige Buddha als ein Tier geboren. Darwin lässt grüssen.
In einem seiner Vorleben wurde der Buddha als Hirsch geboren. Im Laufe der Jahre wuchs er zum Leittier der Herde heran. Er war ein weiser Anführer und brachte sein Volk an einen Platz tief im Innern des grossen Waldes, wo sie in Frieden lebten.
Dann kam ein neuer König an die Macht. Dieser liebte die Jagd über alles. Schon beim Morgengrauen bestieg er sein Pferd und führte seine Männer auf eine wilde Jagd über Wiesen und Felder, durch Wald und Flur. Wild um sich schiessend gab er nicht auf, bis die Sonne unterging. Dann ritt er in seinen Palast zurück, gefolgt von Karren gefüllt mit toten Hirschen, Bären, Hasen, Pfauen, Affen, Leoparden, Wildschweinen, Tigern und Löwen. Und der König war glücklich.
Aber sein Volk war nicht zufrieden. Felder wurden durch die königliche Jagd zerstört. Bauern und Handwerker versäumten ihre Arbeit, weil sie als Treiber Frondienste leisten und die verängstigten Tiere zum wartenden König und seine Männer treiben mussten. Auch die Saatsgeschäfte wurden vernachlässigt.
Die Leute beschlossen diese Situation zu ändern und schmiedeten einen Plan. Sie errichteten im Wald ein Gehege. „Wir werden eine oder zwei Herden Hirsche hinein treiben,“ sagten sie. „ Darin kann der König dann nach Herzenslust jagen. Es werden keine Felder zerstört und wir müssen unsere Arbeit nicht mehr verlassen. Dann soll er ruhig glücklich sein.“
Das Gehege wurde errichtet und zwei Herden hineingetrieben. Die Eingänge wurden verschlossen und die aufgescheuchten Tiere galoppierten hektisch umher. Sie suchten verzweifelt nach einem Ausweg, aber es gab keinen. Endlich blieben sie erschöpft stehen und erwarteten zitternd ihr Schicksal.
Die Männer waren zufrieden und berichteten dem König von ihrem Erfolg.
Eine der beiden Herden wurde vom zukünftigen Buddha angeführt. Das Sonnenlicht spielte in seinem mächtigen Geweih. Seine schwarzen Augen glänzten und seine Schnauze war feucht. „ Über uns ist der blaue Himmel, unter uns wächst das grüne Grass,“ sagte er zu den Seinen. „Gebt nicht auf. Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung. Wir werden einen Weg finden.“ So versuchte er, sie zu beruhigen.
Bald darauf kam der König, um die eingefangenen Herden zu begutachten. Er war zufrieden und spannte seinen Bogen. Als er die beiden Leittiere bemerkte sprach er: „ Die Anführer beider Herden sind wunderbare Tiere. Niemand soll auf sie schiessen. Ich schenke ihnen ihr Leben.“ Dann sandte er seine Pfeile von seinem erhöhten Platz aus in die wieder in panischer Angst wild herum galoppierende Herde. In ihrem Bemühen, dem tödlichen Pfeilregen zu entgehen, verletzten sie einander mit Hörner und Hufe.
So ging es eine Weile. Alle paar Tage kam der König mit seinem Gefolge zum Gehege. Und alle paar Tage wurden mehr der friedliebenden Hirsche getötet. Viele wurden von den fliegenden Pfeilen angeschossen, andere verwundeten sich auf der Flucht.
Der König der Hirsche traf sich mit dem Führer der anderen Herde. „Bruder,“ sprach er, sein gehörntes Haupt traurig schüttelnd, „wir sitzen in der Falle. Ich habe alles versucht, aber es ist umsonst. Das Leiden unserer Völker ist unerträglich. Wie du weißt, werden viele im Bemühen, am Leben zu bleiben, verwundet. Deshalb schlage ich vor, dass zukünftig alle Tiere der beiden Herden einen Strohhalm ziehen müssen. Die- oder derjenige auf welche/n das Los fällt, muss sich vor den König stellen und sich erschiessen lassen. Es ist eine schreckliche Lösung, aber so können wir wenigstens viele vor unnötigen Verletzungen und Schmerzen bewahren.“ Der Führer der anderen Herde war einverstanden.
Am nächsten Tag, als der König mit seinem Gefolge ankam, fanden sie einen verängstigten Hirsch direkt unter ihnen stehen. Beine und Körper zitterten, aber sein Haupt war erhoben. „Was geht hier vor sich?“ fragte der König. „Aha, ich verstehe. Diese Hirsche sind wirklich gescheite Wesen. Sie haben beschlossen ein Tier zum Sterben auszuwählen, um so den anderen das Leiden unserer Jagd zu ersparen. Diese Hirschkönige besitzen Weisheit.“ Ein bedrückender Schatten legte sich auf sein Herz. „Wir werden auf ihren Vorschlag eingehen,“ verkündete er. „Von jetzt an werden wir nur das eine Tier, welches sich direkt vor uns aufstellt, erschiessen.“ Er entspannte seinen Bogen, stieg vom Gehege herunter und ritt schweigend in seinen Palast zurück. In dieser Nacht hatte der König einen unruhigen Schlaf und ein leuchtender Hirsch schritt durch seine Träume.
Eines Tages fiel das Los auf eine schwangere Hirschkuh der zweiten Herde. Sie ging zu ihrem Anführer und sprach: „Sobald mein Junges geboren ist, werde ich ohne zu zögern mein Los auf mich nehmen. Aber wenn ich jetzt gehe, so werde nicht nur ich, sondern auch mein noch ungeborenes Kind sterben. Bitte gewähre mir etwas Aufschub. Ich frage nicht für mich selber, sondern für das Junge, welches in Bälde zur Welt kommen soll.“
Aber der Anführer antwortete: „Das Gesetz ist das Gesetz. Ich kann Dich nicht verschonen. Das Los ist auf Dich gefallen und Du musst sterben. Es gibt keine Ausnahmen. Die Gerechtigkeit verlangt, dass Du gehst.“
In ihrer Verzweiflung rannte sie zum Helden unserer Geschichte, dem König der Hirsche. Sie kniete vor ihm nieder und erflehte seine Hilfe. Er horchte ihr ruhig zu, während er sie aufmerksam mit grossen, freundlichen Augen musterte. „Steh auf Schwester“, sagte er schliesslich „Du bist frei. Du hast recht, unsere Abmachung besagt, dass nur eins sterben muss. Deshalb sollst Du bis zur Geburt Deines Kindes vom Losziehen befreit sein. Ich werde es so anordnen.“
Selig jenseits von Worten verneigte sich die dankbare Hirschkuh und zog sich zurück.
Der König der Hirsche erhob sich. Es gab niemanden, sie zu ersetzen. Er hat ihr das Leben geschenkt, also muss auch er sie ersetzen. Mit grosser Würde schritt er ruhig durch seine äsende Herde. Sie beobachteten ihn. Sein grosses, geschwungenes Geweih und die starken Schultern, seine leuchtenden Augen und die scharfen, schwarzen Hufe, alles tröstete und ermunterte sie. Er war ein wirklicher König und die ganze Herde fühlte sich in seiner Gegenwart geborgen.
Als die Jäger sahen, wer dieses Mal zum Abschuss vortrat, riefen sie: „O König der Hirsche, Du weißt doch, dass unser König Dir Dein Leben geschenkt hat. Wieso bist Du also hier?“
„Ich bin gekommen, damit zwei andere nicht sterben müssen. Und jetzt schiesst. Ihr habt Eure Arbeit zu tun, ich die Meinige.“
Aber die Jäger senkten ihre Bögen und sandten einen Boten zum König: „Majestät mögen so schnell wie möglich kommen.“
Kurz darauf kam der König mit fliegenden Gewändern angeritten. „Was gibt`s? Weshalb habt ihr mich gerufen?“
„Komm Majestät,“ sagten seine Leute, „komm und schau!“
Der König sprang von seinem Pferd, rannte über die grobe Holztreppe aufs Gehege und schaute auf den Hirsch unter ihm. Der König der Menschen und der König der Hirsche blickten einander in die Augen.
„König der Hirsche“, sagte der König der Menschen nach einer Weile. „Ich kenne Dich. Ich hab Dich durch die Wälder meiner Träume wandeln gesehen. Weshalb bist Du hier? Habe ich Dich nicht von meiner Jagd befreit?“
„Welcher König könnte frei sein, wenn sein Volk leidet?“ antwortete der Hirsch. „Heute wandte sich eine trächtige Hirschkuh an mich. Das Los fiel auf sie und beide, Mutter und ungeborenes Kind, sollten sterben. Die Abmachung verlangt aber nur, dass ein Tier stirbt. Ich bin dieses eine, ich nehme ihren Platz ein. Das ist mein Recht und meine Pflicht als König.“
Ein Stein fiel vom Herzen des Menschenkönigs. „Nobler Hirsch,“ sagte er, „Du hast recht. Ein König sollte sich um die geringsten seiner Untertanen kümmern. Das ist eine Lektion, welche ich schon längst hätte lernen sollen. Heute ist es mir durch dein selbstloses Opfer gelungen. Ich werde Dich also königlich belohnen, Dir das Honorar eines Lehrers bezahlen: Du und Deine ganze Herde seid frei und sollt niemals mehr gejagt werden. Geh und leb in Frieden.“
Aber der König der Hirsche sagte: „Grosser König, das ist wirklich ein grosszügiges Geschenk und ich danke Dir. Aber ich kann noch nicht gehen. Erlaubst Du mir, weiter zu sprechen?“
„Fahre fort, edler Hirsch.“
„König der Menschen, wenn ich mit meiner eigenen Herde in die Freiheit ziehe, bedeutet das nicht, dass die andere Herde doppeltes Leid auf sich zu nehmen hat? Jeden Tag wird eines von ihnen erschossen. Sie werden keinen Ruhetag mehr haben. Obwohl ich mir nichts sehnlicher als das Wohl meines Volkes wünsche, kann ich es nicht mit dem Leiden anderer erkaufen. Kannst Du das verstehen?“
Der König der Menschen war sprachlos. „Was!?“ rief er aus, „Du würdest also Deine eigene Freiheit und die Freiheit Deines Volkes für andere auf`s Spiel setzen?“
„Ja,“ sagte der Hirsch, „das würde ich und das tue ich. Versetz Dich in ihre Lage, grosser König, denk an ihre Verzweiflung, stell Dir ihr Leiden vor, und dann lass auch sie frei.“
Der König schwieg und überlegte. Als er endlich sein Haupt erhob, lächelte er. „Noch nie bin ich einer so noblen Gesinnung oder solch entschlossenem Mitgefühl begegnet. Wie könnte ich mich Dir verschliessen? Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen. Auch die andere Herde soll frei sein. Ist es Dir nun möglich, mit Deinem eigenen Volk in Frieden von Tannen zu ziehen?
Aber der Hirsch antwortete: „Nein, grosser König, das kann ich nicht. Ich denke an all die anderen vierfüssigen Geschöpfe. Wie sie habe ich mein Leben inmitten von Gefahren und Angst verbracht. Wie kann ich in Frieden leben, wenn ich an all ihr Leiden denken muss? Ich flehe Dich an, mächtiger König, erbarme Dich ihrer. Friede ohne ihre Freiheit ist nicht möglich.“
Der Mensch war wiederum zutiefst berührt. So etwas war ihm in seinen wildesten Träumen noch nicht eingefallen. Er dachte und dachte und langsam begann ihm die Wahrheit des Gesagten einzuleuchten. Er realisierte, dass es so war, wie der Hirsch sagte. Es gibt keinen wirklichen Frieden, wenn nicht alle daran teil haben können.
„Du hast recht, grosser Hirsch,“ sagte der König endlich. „In meinem ganzen Reich soll nie wieder ein vierfüssiges Tier getötet werden. Ich erlöse sie alle von meiner Jagd:
Hase, Wildschwein, Löwe, Leopard, Tiger, Hirsch, -alle. Nie wieder sollen sie den Pfeilen meiner Jäger zum Opfer fallen. So, mein Lehrer, hast Du nun Frieden gefunden?“
Aber der Hirsch antwortete wieder: „Nein, grosser König, das habe ich noch nicht. Was, mein Gebieter, ist mit den wehrlosen Geschöpfen der Luft? Die Vögel leben in ständiger Gefahr. Netze, Steine und Pfeile erwarten sie wo immer sie hinfliegen. Sie stürzen wie Regentropfen vom Himmel Deines Reiches. Ihre Qualen sind unvorstellbar. Mächtiger Gebieter, ich bitte Dich inbrünstig, befreie auch sie.“
„Edles Wesen,“ sagte der König, „Du bist ein harter Verhandlungspartner, und es scheint, dass du aus uns allen Bauern machen willst. Aber meinetwegen, sollen auch die Vögel frei sein. Mögen sie in meinem gesamten Reich ungehindert umher ziehen und ihre Nester bauen, ohne von Menschen gejagt zu werden. Bist Du nun zu frieden? Hast Du endlich Frieden gefunden?“
„Grosser König,“ antwortete der Hirsch, „gedenke auch der Schweigsamen Deines Reiches, der Fische. Wenn wir nicht jetzt über sie sprechen, wer soll es je tun? Während sie in den Seen, Flüssen und Bächen Deines Reiches schwimmen, warten Hacken, Netze und Harpunen auf sie. Wie soll ich in Frieden leben, während sie solchen Gefahren ausgesetzt sind? Grosser Herrscher, ich flehe Dich an, verschone auch sie.“
„Ehrwürdiger,“ sprach der König der Menschen, und Tränen rollten über seine Wangen, „der Du voller Mitgefühl bist, noch nie habe ich so etwas gehört oder gesehen. Aber jawohl, Du hast recht. Auch die Fische gehören zu meinem Reich, auch sie leiden, auch für sie trage ich Verantwortung. Von heute an sollen auch sie von uns Menschen verschont werden und sich ungehindert in ihrem Element tummeln können.“ Und der König sandte seine Boten in alle Himmelsrichtungen und liess seinen Entschluss verkünden: „Vom heutigen Tag an sollen alle Wesen in meinem Reich in Frieden leben können. Niemand soll sie fangen, jagen oder Töten.“
„Edles Wesen,“ sagte der König und wandte sich noch einmal zum Anführer der Hirsche, „hast Du jetzt Deinen Frieden gefunden?“
Ein Schwarm Vögel setzte sich zwitschernd ins Geäst eines Baumes, die Hirschherde äste ruhig auf der grünen Wiese.
„Ja,“ sagte der König der Hirsche, „jetzt habe ich meinen Frieden gefunden.“ Und er sprang vor Freude wie ein Jungtier in die Luft, alle vier Füsse von sich streckend. Dann bedankte er sich beim König der Menschen, versammelte seine Herde, und führte diese zurück in die Tiefen des Waldes.
Der König liess an der Stelle seiner Wandlung eine Steinsäule errichten. Auf ihr war ein mächtiger Hirsch eingemeisselt, eingerahmt durch die Worte: „Ehre dem noblen Anführer der Hirsche, mitfühlender Lehrer der Könige.“
Auch er lebte noch viele Jahre und kümmerte sich mit Weisheit und Mitgefühl um alle Dinge.