Buddhismus ist nicht Vegetarismus

BODHIN KJOLHEDE
 (Übersetzung: Dr. Claudia Schoßleitner)

Kürzlich wiederholte ein Zen-Meister anläßlich eines Einführungskurses dreimal recht vehement: "Buddhismus ist nicht Vegetarismus!" Später argumentierte er, Vegetarier zu sein sei auch eine Form des Anhaftens. Was sollen wir von solchen Erklärungen halten?

Zunächst wollen wir der Aussage beipflichten, daß Buddhismus nicht Vegetarismus ist. So wie er nicht „Tugend“, „Friede“, oder „Weisheit“ oder irgendein anderes Wort oder Konzept ist. Ihn mit irgend etwas gleichzusetzen heißt etwas einzuschränken, was im Grunde genommen grenzenlos ist. Tatsächlich ist Buddhismus nicht einmal Buddhismus.

Aber jetzt wollen wir den sicheren Hafen der Verneinungen verlassen und uns der lebendigen Praxis zuwenden.

Wie sollen wir die in buddhistischen Tempeln in Indien und überall in den Mahayana-Ländern China, Korea und, bis vor kurzem, Japan, lange gepflegte Tradition, sich des Fleischgenusses zu enthalten, verstehen? Waren etwa all diese Generationen von Patriarchen einer kollektiven Selbsttäuschung verfallen? Auch jene, die glauben, Vegetarismus im Kontext der buddhistischen Lehre als nebensächlich abtun zu können, müssen diese Praxis, die Jahrhunderte überdauert hat, zur Kenntnis nehmen. Für Bewohner von Polarregionen wäre Vegetarismus tatsächlich eine Form des Anhaftens - und zwar eine, die sie ihr Leben kosten würde. Auch in Tibet, wo kaum etwas wächst, ist Fleisch praktisch eine Notwendigkeit. Und ebenso in tropischen Entwicklungsländern mit dürftigen Ressourcen und beschränkten Verteilungsmöglichkeiten würde die Aufrechterhaltung einer rein vegetarischen Kostform meist einen unverhältnismäßigen Aufwand an Zeit, Energie und Geld erfordern.  Jene von uns aber, die in den modernen Industriestaaten Nordamerikas, Europas und Asiens leben, sind mit einer reichen Auswahl an Nahrungsmitteln gesegnet. Für die meisten von uns ist eine Überfülle an vegetarischen Nahrungsmitteln erhältlich, die uns ein Leben lang robuste Gesundheit garantieren. Wer würde sich angesichts dieser Vielfalt an pflanzlicher Nahrung bewußt dafür entscheiden, Schlachthäuser zu unterstützen und das mit der modernen Massentierhaltung verbundene Elend zu fördern, indem er weiter Fleisch ißt?

Da sind einmal jene, die fürchten, daß ohne Fleisch und Fisch ihre Gesundheit leiden könnte (was für eine Ironie!); anderen ist nicht bewußt, in welch enormem Ausmaß die Fleischindustrie zum Mißbrauch und zur Verschwendung globaler Ressourcen beiträgt. Aber für die meisten Fleischkonsumenten, fürchte ich, ist die Gewohnheit Tiere zu essen einfach zu angenehm, um damit aufzuhören. Sie kennen zwar die Gründe, die dafür sprechen würden, den FIeischkonsum aufzugeben, wollen aber nicht. Schlimmer noch, anstatt in diesem Punkt ehrlich zu sich selbst zu sein, verbergen viele ihre wahre Motivation hinter wohlklingenden buddhistischen Konzepten wie dem der "Nichtanhaftung". Aber gerade die Fortsetzung der Praxis, Tiere zu essen, obgleich man weiß, daß es unnötig ist, ist gewöhnlich nichts anderes als Anhaften an selbstsüchtigen Vorlieben. Aber auch Vegetarismus kann Verhaftung sein, je nach der geistigen Einstellung. Nachdem ich seit 25 Jahren kein Fleisch mehr verzehre, betrachte ich mich nicht länger als „Vegetarier“ (obwohl es unter gewissen Umständen passend ist, dieses Etikett zu benutzen). Ich esse einfach kein Fleisch. Das ist wirklich nichts besonderes, keinesfalls eine schmerzliche Entbehrung. Mein Lehrer Roshi Kapleau warnte stets: „Gib nicht das Fleisch auf, laß das Fleisch dich aufgeben.“  Wenn eine Ernährungsform, ob nun Vegetarismus oder Makrobiotik, zum Dogma wird an dem wir hängen und das in uns Selbstgerechtigkeit und die Tendenz zur Verurteilung anderer erweckt, wird sie zur Fessel. Aber man kann auch in der Vorstellung von "Freiheit" feststecken - und das ist eine Form des Anhaftens, die fühlenden Wesen bei weitem mehr Leid zufügen kann. Kann man eine fleischlose Diät aufrechterhalten und dennoch frei sein von jeder Bindung daran?

Im Plattform-Sutra berichtet der chinesische Patriarch Hui Neng, daß er, nach der Übertragung des Dharma durch den fünften Patriarchen, Jahre in der Abgeschiedenheit mit einer Gruppe von Jägern zubrachte. „Zu den Mahlzeiten“, erzählt er, „kochten sie ihr Fleisch in einem Topf mit dem Gemüse". Wenn sie mich aufforderten, mit ihnen zu teilen, erwiderte ich: „Ich werde mir nur das Gemüse herausfischen.“ Kann man sagen, er sei dem Vegetarismus verhaftet gewesen? Und wenn das Abstandnehmen vom Fleischverzehr selbst schon als „Anhaften“ bezeichnet wird - folgt daraus, daß die Weigerung, den Fleischkonsum aufzugeben, Nichtverhaftung zeigt?

Es ist traurig zu sehen, wie viele amerikanische Buddhisten sich in selbstgerechter Übereinstimmung darüber befinden, Fleisch zu essen. Manche bemühen kühn die Doktrin der Leerheit und beharren darauf, es gäbe weder ein Töten noch ein fühlendes Wesen, das getötet werde. Andere verstecken sich hinter der Entschuldigung, fressen und gefressen werden entspräche der natürlichen Ordnung der Dinge und schließlich seien „das Leben einer Karotte und das einer Kuh“ gleich zu bewerten.

Wie dem auch sein mag, die Wahrheit ist, daß wir Menschen mit Unterscheidungsvermögen begabt sind, das wir dazu nutzen können, ein Bewußtsein für die Konsequenzen unserer Willensakte zu kultivieren und so die Nahrung zu wählen, die das Leiden lebender Wesen minimiert. Unser Bestreben im Mahayana-Buddhismus - insofern man von einem "Bestreben" sprechen kann - ist es, unser angeborenes Mitgefühl freizusetzen und die bodhisattvischen Gelübde zu erfüllen. Im ersten dieser Gelübde „Alle Wesen, unzählig, gelobe ich zu befreien“, übertragen wir unser Mitgefühl auf alle Wesen, nicht nur auf Menschen. Das Vermeiden von Fleisch ist ein Weg, diese Verpflichtung für das Wohlergehen anderer Geschöpfe zum Ausdruck zu bringen. Sobald wir eingewurzelte Vorlieben hinter uns lassen und von gewandten Rationalisierungen Abstand nehmen, wird das Thema Vegetarismus zu einer bloßen Frage der Notwendigkeit.

Wenn du Fleisch essen mußt um dein Leben zu erhalten, oder, in Extremfällen, deine Gesundheit, tu es, und tu es bewußt und dankbar. Wenn nicht, warum zu unnötigem Leiden beitragen?

Bodhin Kjolhede Sensei ist Dharmanachfolger der Linie Philip Kapleau Roshi, Hakuun Yasutani Roshi, Daiun Harada Roshi und Abt des Zen Center Rochester, 7 Arnold Park, Rochester N.Y. 14607